Indem 20 Uhr immer näher rückte, begann es am 16. Juli im Schwaberinger Pfarrheim erwartungsvoll zu knistern und Kurt Kantner erhob sich, um schon einmal den Vortragenden und sein Thema anzukündigen: „Naturwissenschaften und Religion – ein Konflikt?“ Doch dann fuhr Andreas Zach selbst in den Saal wie ein Windstoß vor dem Gewitter. Und das Publikum blickte besorgt zum Himmel.
Tatsächlich sollte oben am Himmel in den folgenden gut zwei Stunden vieles geschehen, was der Kirche, was Christen, was aller Religion Sorge bereiten kann: Die Naturwissenschaft hat Gott aus den überlieferten Orten des Glaubens vertrieben – und wir müssen zusehen, wo er uns wieder findet. Dass die Kirche in der rund 500-jährigen Astronomie-, Physik- und Geistesgeschichte, die Andreas Zach in halsbrecherischem Zeitraffer auf uns eindonnern ließ, keine sonderlich rühmliche Rolle spielt, macht die Sache für die einzelnen Gläubigen nicht leichter. Doch von ebendort kommt am Ende auch ein haltbarer Glaube: von den einzelnen Gläubigen.
Man muss dazu sagen, dass der Rosenheimer Stadtpfarrer Andreas Zach kein Redner ist, sondern ein begeisterter und begeisternder Geschichts- und Geschichtenerzähler, ein flugs wechselnder Rollenspieler, ein Illustrator aus dem Handgelenk, ein gnadenloser Denker, der keine Ausreden gelten lässt, ein lebenskluger Weiser und vor allem: einer, der’s wissen will. Wer in Zukunft noch einmal Gelegenheit hat, ihn zu diesem Thema zu hören, das ihn ein Leben lang umtreibt, sollte sie unbedingt beim Schopf packen. So kompakt, so klug gewichtet, wird man die Frage, wie sich Glaube und Naturwissenschaft zueinander verhalten, sonst kaum erleben können.
Das nun Folgende ist aus dem persönlichen Bestreben entstanden, sich im Nachgang selbst noch einmal die wichtigsten Stationen dieses Abends zu vergegenwärtigen. Man muss es nicht lesen; vielleicht kann man es später einmal zurate ziehen (dazu sind den Personen und Gegenständen, wo möglich, die direkten Verweise auf Wikipedia unterlegt). Hier die Kürzestfassung in drei wichtigen Erkenntnissen: Am wichtigsten, denn sie muss zuerst stattfinden, ist wohl die Einsicht, dass Glaube die Naturwissenschaft nicht einfach ignorieren kann. Dann, dass wir Gott nicht von außen, sondern von innen aus uns heraus erwarten dürfen (die Vorstellung, Gott sei „irgendwo da droben“ war eher eine Puppentheatervorstellung). Drittens bleibt sogar der Trost: Auch Puppentheater ist ziemlich praktisch, lehrreich und sogar vollkommen vernünftig. Denn wo wir fragen, was wir tun sollen, hilft die Naturwissenschaft wenig.
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Hier die Langfassung:
Nikolaus Kopernikus macht den Anfang, indem er nicht die Erde samt Krone der Schöpfung, sondern die Sonne in den Mittelpunkt des Planetensystems stellt – was aber zunächst kaum für Unmut sorgt. Zu sehr gehört sein Werk „De revolutionibus orbium cœlestium“ (1543) der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt an – auch wenn nun klar ist, dass man seinen Augen nicht trauen kann. Denn die Sonne geht nicht auf und unter, nur unsere Redeweise tut so; tatsächlich dreht sich ein Ort auf der Erde zur Sonne hin und wieder von ihr weg.
Auf dieser Grundlage ist Johannes Kepler in der Lage, die Bahnen der Planeten beschreiben; er kann nun die Position jedes Planeten zu jedem beliebigen Zeitpunkt bestimmen. Die Gesetze, nach denen dies geschieht, sind aber keine Gottes-Gesetze, sondern (physikalische) Natur-Gesetze. Die Kirche ist irritiert, aber der Konflikt bleibt im Wesentlichen auf die akademische Welt beschränkt. Papst Gregor XIII. korrigiert 1582 sogar die antike Kalenderzählung durch die Einführung des gregorianischen Kalenders, den er den neu errechneten Naturgesetzen gemäß eicht.
Offen bricht der Konflikt zwischen Kirche und Naturwissenschaft durch den – volkssprachlich italienisch verfassten! – „Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano“ aus. Was bis dahin als gelehrte Rechenvermutung abgetan werden konnte, ist mit einem Mal bedrohliches Gemeinwissen. Und die Beobachtungen Galileis sind deutlich schärfer, auch aufgrund der verbesserten Fernrohre. Er wird zum Prozess nach Rom zitiert, muss abschwören, entgeht aber dem Scheiterhaufen. Damit endet mit einem Mal die Phase, in der die katholische Kirche den Fortschritt der Wissenschaft als vorsichtig-interessierte Beobachterin teilt; stattdessen stellt sie sich, ungeschickt, noch bis Kopernikus rückwirkend auf eine Seite, die nicht mehr zu halten ist.
Andreas Zach kam kurz auf René Descartes zu sprechen, dessen Schriften, namentlich die „Meditationes de prima philosophia“, die katholische Kirche gleichfalls auf den Index der verbotenen Bücher setzte. Descartes eröffnet mit der Infinitesimalrechnung u.a. einen Weg zum Rechnen mit dem Unendlichen. Kurz ging es auch um Gottfried Wilhelm Leibniz, der auf diesem Weg sehr viel weiter geht und sich ausführlich dem Problem der Theodizee widmet (typische Kernfrage: „Wie kann Gott das zulassen?“).
Zachs Herzen sehr viel näher ist aber in dieser Zeit der vielseitige, geniale Blaise Pascal, ein Denker, Rechner und Mystiker, der schon mit 16 Jahren eine – bis heute haltbare – Arbeit über die Kegelschnitte vorlegt und keine 40 Jahre alt wird. Pascals Leben ebenso wie seine „Pensées sur la religion et autres sujets“ (Gedanken über die Religion und andere Gegenstände), dürfen als enorm reiche und anregende Quelle für glaubenslustige Christen empfohlen werden. Zach brachte Pascals Unterscheidung von „esprit de géométrie“ und „esprit de finesse“ zur Sprache und dazu den wortspielerischen Kernsatz „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas“ („Das Herz hat seine Gründe [Verstande], von denen der Verstand nichts weiß“).
Ratsam ist die Pascal-Lektüre auch deshalb, weil sie vor der reinen Sturheit und einem simplen „Es gibt halt irgendwie doch mehr“ bewahrt; dass er die Rede vom „Geheimnis Gottes“ als keine gute Lösung ansieht, hatte Zach bereits eingangs deutlich gemacht. Pascal dagegen dreht und wendet Glauben und Wissenschaft sehr genau mit- und gegeneinander – und das in einer berückenden, oft poetischen Ausdrucksweise (selbst die Zitatenzusammenstellung auf Wikiquote lässt deren Größe deutlich spüren).
Pascal zeichnet damit etwas vor, das uns noch unter den Begriffen von Aspekt und Relativität beschäftigen sollte. Und er vergisst dabei vor allem nie die lebenspraktische Moral; esprit de géométrie und esprit de finesse antworten sehr unterschiedlich auf die Frage „Wie soll ich leben?“ Selbst wer keinen eigenen Glauben zu versöhnen hat, sondern nur das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion geklärt wissen will, kann sich an Pascals Glücksspiellogik halten: Es ist vernünftig, in der Annahme zu leben, dass es Gott gibt – liegt man falsch, so ist nichts verloren, stimmt es aber, ist alles gewonnen.
Mit Isaac Newton, ebenfalls ein großer Infinitesimalrechner (wie zur gleichen Zeit Leibnitz), nageln die Naturwissenschaften den Deckel auf das bisher Erreichte: Kopernikus, Kepler und Galileo erfahren hier ihre in mathematischer Allgemeingültigkeit formulierte Bestätigung. Die Anziehungskraft großer Körper gilt auf Erden und am Himmel, für den zu Boden fallenden Apfel ebenso wie für die Bahnen der Himmelskörper.
Charles Darwin wiederum macht erstaunliche (und ungewollte) Entdeckungen auf der Zeitleiste: Für die Entwicklung aller Arten durch Evolution genügt der bibelgezählte Zeitraum von rund 6000 Jahren seit Erschaffung der Welt nie und nimmer. Die Erde muss unglaublich viel älter sein. (Wie genau das Publikum der anspruchsvollen Darstellung folgte, mag daraus erhellen, dass eine Zuhörerin auf der genauen – und richtigen – Formulierung bestand, dass Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben.) An dieser Stelle greift Zach im Exkurs auf Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse zurück, der dies als eine der drei großen Kränkungen des Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnis beschreibt. Die erste Kränkung ist Kopernikus Befund, dass die Erde nicht Mittelpunkt der Schöpfung ist, die zweite ist Darwins Feststellung, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung, sondern ein gut entwickeltes Tier ist, und die dritte folgt aus Freuds eigener Psychologie und dem Rang des Unbewussten: „dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“.
Hier hatten wir bei fortgeschrittener Zeit längst den Punkt erreicht, an dem sich die Zuhörer sonst längst im Geiste verabschiedet haben. Zachs freie, lebendige Rede, seine Beweglichkeit im Raum, sein gewaltiges kabarettistisches Talent für szenische Dialoge und sogar noch seine unbändige Lust an der Abschweifung machten den Vortag so kurzweilig, dass das Publikum ohne es selbst zu merken bei der Stange blieb, sogar noch über Einstein hinaus.
Mit Albert Einstein ist die Erzählung im 20. Jahrhundert angelangt. Seine Relativitätstheorie zeigt, dass weder Raum noch Zeit stabile Größen sind, unveränderlich ist allein die Lichtgeschwindigkeit. Jedes Verständnis von Gott als unbewegtem Beweger, als altem Mann mit Bart, der oben ist und herunterschaut, wird damit endgültig unmöglich.
Dafür wird etwas anderes unbedingt notwendig: die Moral. Denn die Naturwissenschaften sind kein schlechter, sie sind überhaupt kein Ratgeber; sie sind in diesem Sinne schlicht unvollständig. Als übertragener Anknüpfungspunkt zum Rückgriff auf Pascal diente hier die in den Einsteinschen Theorien wiederkehrende Frage nach dem Standpunkt eines Beobachters von Bewegung. Selbst Raum und Zeit sind Dinge, die nicht konstant, sondern standortabhängig sind. Von dort zog Zach eine direkte Linie zum bekannten Satz Karl Rahners: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Dass Gott in uns sein – und noch lieber: wirken – mag und dass dies erfahrbar ist, dürfte die stärkste Position sein, die Religion den Naturwissenschaften gegenüber einnehmen kann. Selbst die biblischen Geschichten sind von diesem Standpunkt aus richtig, so wie es richtig und angemessen ist, dass Menschen einander nicht vorrechnen, sondern sprechen, und so wie es richtig, angemessen und vernünftig ist, dass Verliebte den Sonnenuntergang sehen (statt sich schräg hintenüber von einem thermonuklear befeuerten Stern wegzudrehen, um den sie zugleich mit rund 107.000 km/h durch den luftleeren Raum sausen).
Korrekturen (womit zu rechnen ist), Ergänzungen (die gibt es ohne Ende) und Einwände (ich hätte selbst welche) hierzu sind ausdrücklich erwünscht.
Florian Eichberger
In Kreisen gebildeter Sieben- bis Achtjähriger, so höre ich, kursiert momentan eine reizende Kompromissformel zur Schöpfung bzw. zur Evolution: „Die Affen haben die Menschen erschaffen.“