Fast dreißig Interessierte fanden sich am 2. Oktober 2014 im Pfarrheim Vogtareuth ein, um dem Vortrag von Herrn Dr. Norbert Wolff zum Thema „Aberglaube und Volksglaube“ zu folgen und an der anschließenden Diskussion teilzunehmen; auch Herr Pfarrer Guido Seidenberger und Herr Pfarrvikar Konrad Roider waren da.
In einem historischen Überblick zeigte Herr Dr. Wolff die Entwicklung der Volksfrömmigkeit vom späten Mittelalter über Luther und die Reformation bis heute auf, er erläuterte dabei die verschiedenen Schwerpunkte und setzte diese immer wieder in Bezug zur „Amtskirche“. Besonders am Beispiel der Entwicklung von Wallfahrten wurde deutlich, dass Äußerungen des Volksglaubens von ganz unterschiedlichen Seiten unter Beschuss geraten: Das Zeitalter der Aufklärung etwa sah in Pilgerfahrten vor allem eine Ressourcenverschwendung (Wallfahrer gehen nicht zur Arbeit), aber auch Widerstand gegen die Staatsgewalt (Wallfahrer entziehen sich der landesherrlichen Obrigkeit) und organisierte Unzucht (Wallfahrer übernachten gemeinsam im Heu). Dennoch erlebte die gemeinsame Fußreise zu Glaubenszielen im frühen 19. Jh. wieder einen gewaltigen Aufschwung. So konnte Dr. Wolff durchaus tröstlich darauf verweisen, dass Volksfrömmigkeit durch die Jahrhunderte stets einen wellenförmigen Verlauf zeigt, mit intensiven Phasen und mit Phasen, die die Gläubigen – wie in unseren Tagen – als Niedergang erleben.
Deutlich wurde auch, dass Volksfrömmigkeit eine starke Wurzel unseres Glaubens ist; sie macht den größten Teil des gelebten Glaubens aus. An diesem Punkt warnte Dr. Wolff aber auch davor, dass Traditionen zu glaubensleerem Brauchtum geraten, dem der spirituelle Inhalt verloren geht; dann nämlich verschwindet dahinter das Eigentliche, nämlich der wahre Glaube an Jesus. Zu erleben ist das alljährlich an Weihnachten und an Ostern, aber z.B. auch bei manchen Leonhardiritten. So kam Dr. Wolf auch höchst interessant auf den Bezug der Volksfrömmigkeit zum Kalenderjahresverlauf in der Jahreszeitenfolge zu sprechen, dies im Vergleich zum Kirchenjahr, das ja mit dem ersten Advent beginnt.
Andererseits seien auch vermeintliche Hochphasen von Spiritualität kritisch zu betrachten. Zum regelrechten Wallfahrtsboom etwa ergänzte Dr. Wolff, dass die spanische Kirche am Ziel in Santiago mittlerweile katholische Informations- und Glaubenspunkte einrichte, um den modernen „Suchenden“ ihr eigentliches Ziel vor Augen zu halten. Denn allzu oft gebe man sich heute mit der Pose des ziellos (für sich selbst) „Suchenden“ zufrieden.
Kernfrage der anschließenden Diskussion war denn auch: Wie können wir spirituell Suchende (wieder) für die Kirche gewinnen, namentlich Menschen, die ihre spirituellen Bedürfnisse heute in zahlreichen anderen, oftmals nichtreligiösen Kreisen leben? Hier ist es eine große Aufgabe unserer Kirche, auf diese Menschen offen zuzugehen und ihnen unseren Glauben vorzustellen und respektvoll nahezubringen, so Dr. Wolff. Ein spezieller gemeindepraktischer Punkt war die Frage, wie wir Jugendliche für die Kirche (wieder)gewinnen können. „Basis dafür ist eine liebevoll religiös geprägte Kindheit. Darauf kann in späteren Jahren aufgebaut werden, auch wenn sich Jugendliche vorübergehend von der Kirche abwenden“, so die Erfahrung von Dr. Wolff.
Herr Pfarrer Guido Seidenberger beschloss dann die Veranstaltung nach einem Dank an den Vortragenden und an die Besucher mit dem Segen.
Zu danken ist außerdem Kurt Kantner, der die Vortragsreihe „Reden über Gott und die Welt“ organisiert und den Abend moderierte. Wer selbst erlebt hat, wie souverän und kenntnisreich Dr. Norbert Wolff Wissen, Überlegung, Überzeugung und Glauben darlegt, durfte an diesem Abend einen ungemein überzeugenden und klugen Hochschullehrer, einen anregenden und praktischen Ratgeber, ja einen wirkmächtigen Missionar im eigenen Lande hören. Dr. Norbert Wolff wird übrigens im Frühjahrssemester 2015 des Bildungswerke-Seniorenstudiums (Kultur: „Leben im Herrgottswinkel? Glaube, Religion, Kultur von Bedaius bis Benedikt“) am 14. April 2015 noch einmal ein Seminar zum Thema halten: „Aberglaube und Volksglaube“. Ansonsten hat Dr. Wolff auch eine eigene Facebook-Seite. – Und in Prutting ist, sozusagen den Erkenntnissen aus diesem Abend vorgreifend, für den 31. Oktober bereits eine Halloween-Alternativveranstaltung mit Pfarrvikar Konrad Roider geplant.
Dem Vernehmen nach haben sich manche Zuhörer vom Titel der Veranstaltung schwer getäuscht gefühlt. Das ist wohl möglich. „Aberglaube und Volksglaube“ macht auch auf allerlei volkskundliche Kuriositäten neugierig, auf Wetterregeln, Kräuterweisheiten, Appoloniakörner etc. Der Vortrag selbst ging in eine ganz andere Richtung und war meines Erachtens wirklich prima, nicht zuletzt deshalb, weil Wolff wie nebenbei den Volksglauben kräftig aufgewertet hat: Volksglaube ist am einen Ende wichtig und richtig, ist lebendig, täglich und gut; am anderen Ende wird er vergesslich, beliebig und ist nurmehr unverstandene Routine oder esoterischer Privatkram. Das ist auch das Zweite, das mit sehr gut gefallen hat: dass Wolff bei etlichen Dingen zwei ganz gegensätzliche Pole deutlich gemacht hat.
Mir scheint dabei, dass die Entwicklung zwischen den Polen sogar in beide Richtungen funktioniert: Eine Prozession kann zum „leeren“ Touristenspektakel werden, andererseits haben wir sogar spezielle Formen wie Rosenkranz, Litaneien etc., die ihren Wortsinn durch vielfache Wiederholung mit Absicht auflösen, dabei aber nicht „leere“ Worte werden, sondern Meditation, das heißt: Andacht. Bei manchen Zusammenhängen lassen sich Wirkung und Ursache umkehren. Vor Müdigkeit fallen einem die Augen zu, und wer vorhat einzuschlafen, braucht oft nur die Augen lang und ruhig zu schließen. Vermutlich sind Gewohnheit und Übung (genau das war ja ein großes Thema des Schmidberger-Vortrags im Mai) keine schlechten Wege zum Glauben. Wir können, um auf die Diskussion zurückzukommen, von einer liebevoll religiös geprägten Kindheit doch zuerst auch nur ein unverstandenes Vaterunser erwarten und wir beginnen alle nicht mit der Heiligsprechung, sondern mit der Taufe.
Was ich nicht verstehe, ist der in der Diskussion berichtete, nachträgliche Vorwurf von mittlerweile erwachsenen Kindern, man habe sie „in die Kirche gezwungen“. Das heißt – den Vorwurf verstehe ich schon, auch wenn ich vermute, dass das Kind weniger gezwungen war, als vielmehr der Erwachsene im Rückblick findet, dass er es als Zwang empfinden würde, wenn ihm die Eltern heute sagten, er müsse in die Kirche mitgehen. Das ist nur normal. Was ich nicht verstehe, ist, dass gerade dieser Zwang als Vorwurf geäußert wird und nicht alle anderen: „Ihr habt mir einen Löffel ins Maul geschoben und mich zum Essen gezwungen!“ (das haben die Eltern bestimmt getan) oder „Ihr habt mich gezwungen, in die Schule zu gehen!“ (außer sonntags, da war Kirche). Man darf sich dazu vor Augen halten, mit welch stolzgeschwellter Brust sonst von der eigenen Jugend und ihren Widrigkeiten berichtet wird, als seien Kohleknappheit und kein Telefon ein persönliches Verdienst. Merkwürdig.